Der Schmerz sich Trennen zu müssen ist nichts gegen die Freude, sich wieder zu treffen – Charles Dickens
Die Retrospektive steht an, aber dein Team ist im Home-Office? Das ist kein Grund die virtuelle Flinte ins virtuelle Korn zu werfen. Produktive Retrospektive können online auch ohne teure Tools durchgeführt werden.
Eine gute Retrospektive besteht aus folgenden 5 Phasen, an denen ich mich hier orientieren möchte. Gerade online Retros sollten kurz und knackig sein, ich gehe hier von 60 min aus.
- Ankommen (Set the stage) – 6 min
- Daten sammeln (Gather data) – 20 min
- Einsichten erzeugen (Generate insights) – 20 min
- Entscheidungen treffen (Decide what to do) – 12 min
- Retrospektive abschließen (Close the retrospective) -2 min
Vorbereitung
Wähle ein Kommunikationsmittel: Skype, Teams, Zoom oder auch das gute alte Telefon. Jeder Teilnehmer sollte einen Computer mit Internetverbindung haben. Ich benutze hier außerdem ein Tool für virtuelle Boards, z.B. Trello oder MeisterTask. Verschicke vorab an alle Teilnehmer die entsprechenden Links und verifiziere, dass alle ihren Zugang getestet haben.
Es sollte einen expliziten Moderator geben, z.B. den ScrumMaster des Teams. Dieser sollte eine Liste der Teilnehmer vorliegen haben. Online ist es für den Moderator eine besondere Herausforderung allen Teilnehmern Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere wenn man gemeinsam auf eine Präsentation oder ein Online-Board schaut. Für die Teilnehmer ist es einfacher, wenn sie die Liste sehen. Wenn man z.B. der Reihe nach dran ist, weiß jeder Teilnehmer an welcher Position er steht.
In den folgenden Schritten gehe ich davon aus, dass du der Moderator bist!
1. Ankommen – drei Worte
Um die Teilnehmer zu aktivieren sollte beim Ankommen jeder mindestens einmal kurz zu Wort kommen, z.B. in einem Blitzlicht über den letzten Sprint:
- Herzlich Willkommen zu unserer Retrospektive. Lasst uns zum Ankommen den letzten Sprint mit maximal drei Worten beschreiben, z.B. “Eine perfekte Welle.” oder “Panik, Weltuntergang, Auferstehung.” Ihr bekommt jetzt 1 Minute Zeit, so dass ihr euch eure drei Worte überlegen könnt. Fragen? Nein? Dann los.
Frag nach einer Minute, ob alle fertig sind und verlängere bei Bedarf um eine weitere Minute. Dann ruf den ersten Teilnehmer von der Liste auf. Ist die Reihenfolge klar können sich die Teilnehmer dann das Wort selber übergeben. Ansonsten ruf jeden Teilnehmer explizit auf, damit keine Zeit verloren geht.
Die drei Worte sind ein erster Hinweis, ob der Sprint eher gut oder schlecht gelaufen ist.
2. Daten Sammeln – Mad, Sad, Glad
Um sinnvoll Daten zu sammeln bietet sich Tool-Unterstützung an. Tools für virtuelle Boards wie Trello oder MeisterTask haben schon in der kostenlosen Version ausreichend Funktionalität für eine Retro.
- Lasst uns nun mit dem Sammeln der Daten beginnen. Wir nutzen die Methode Mad, Sad, Glad. Denkt an die letzte Iteration und überlegt was euch glücklich gestimmt hat (das sind die Glad-Karten), womit ihr unzufrieden wart (Sad) und was euch in den Wahnsinn getrieben oder regelrecht wütend gemacht hat (Mad). Jeder von euch darf insgesamt maximal drei Karten schreiben, überlegt euch also was am wichtigsten für uns ist. Bitte ordnet die Karten in die richtige Spalte ein und markiert sie mit einem farbigen Label. Ihr bekommt 5 Minuten Zeit. Fragen? Nein? Los gehts!
Strukturiere das Board für Mad, Sad, Glad zum Beispiel wie in der folgenden Abbildung:
Die Teilnehmer sollten nun die ersten drei Spalten für die drei Kategorien Glad, Sad und Mad mit Karten füllen. In der Regel entstehen zu viele Karten, als dass man alle besprechen könnte, d.h. wir müssen die bestehenden Karten Priorisieren. Bei manchen virtuellen Boards gibt es die Möglichkeit Abstimmungen durchzuführen. Wenn das nicht möglich ist, kann man sich mit der Zuordnung von Personen zu den Karten behelfen, die normalerweise für die Aufgabenverteilung gedacht ist.
- Die Zeit ist um. Lasst uns nun die Karten priorisieren. Jeder von euch darf drei mal seinen Avatar vergeben. Wählt die drei Karten aus, die aus eurer Sicht heute besprochen werden sollten und zieht euren Avatar auf die Karte, so als wolltet ihr die Aufgabe übernehmen. Das dient im Moment nur der Priorisierung. Ob und wer die Karte dann bearbeitet entscheiden wir später.
Jetzt sollten auf den Karten die Avatare der Teilnehmer erscheinen. Am Ende sollte jeder Teilnehmer maximal drei Avatare verteilt haben. Sortiere nun die Karten mit den meisten Avataren in den Spalten nach oben und ziehe dann die 2-4 am höchsten priorisierten Karten in die Spalte “Priorisiert”, unabhängig davon, ob diese vorher in der Mad-, Sad- oder Glad-Spalte gehangen haben. Wo die Karte herkam, sollte am Label sichtbar sein.
3. Einsichten erzeugen – Root Cause Analysis
Jetzt kann die Analyse beginnen. Ziehe die erste Karte in die Spalte “in Diskussion”.
- Lasst uns über die Karte “zu wenig automatische Tests” sprechen. Bevor wir mit Lösungsvorschlägen kommen, würde ich gerne die Ursachen besser verstehen. Was glaubt ihr ist das Problem?
Anstatt nun wieder alle Karten zu den Ursachen schreiben zu lassen, bevorzuge ich an dieser Stelle die offene Kommunikation und schreibe mögliche Ursachen als Stichworte mit in die Beschreibung der Karte.
4. Entscheidungen treffen – SMART Goals
Sind die Ursachen geklärt, muss sich das Team auf sinnvolle Maßnahmen zur Lösung einigen. Bei Trello kann man das z.B. mit einer Checkliste machen, die man später abhaken kann.
- Lasst uns nun überlegen, welche Maßnahmen wir treffen wollen. Diese sollten möglichst SMART sein, also specific (=konkret), measurable (=messbar), attainable (=erreichbar), relevant, timely (=termingebunden). Was schlagt ihr vor?
Ihr könnt schließlich festlegen, wer sich um die Maßnahmen kümmert, indem ihr die Avatare, die vorher für die Abstimmung benutzt wurden entfernt und durch die Verantwortlichen für die Maßnahme ersetzt.
5. Abschluss
Zum Abschluss frage ich meistens nur, was gut lief und was man für die nächste Retrospektive verbessern könnte.
Für alle Phasen kann man sich vom Retromat inspirieren lassen, der dutzende Methoden zusammenfasst, die aber meistens für offline Retros gedacht sind.
Wenn man zuvor Retros durchgeführt hat, ist ein wichtiger Schritt natürlich zu überprüfen, ob die Maßnahmen vom letzten Mal umgesetzt wurden.
Nachdem ihr mein Vorgehen gelesen habt, würde mich natürlich interessieren, wie ihr Retrospektiven durchführt. Welche Tools verwendet ihr? Welche Methoden sind erfolgreich?
Literatur:
(1) Derby, Esther 2006: Agile Retrospectives*: Making Good Teams Great (Pragmatic Programmers)
(*) Affiliate-Links.
Holger Tewis ist Agile Enterprise Coach
www.holgertewis.de
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